2. Oktober – 6. Dezember 2020
Die erste Reaktion beim Anblick von Lies Maculans Fotoskulpturen ist Erstaunen: die abgebildeten Objekte erscheinen verblüffend plastisch, ja physisch greifbar vor uns. Man meint fast, man könne die Bibliothek durch das Portal wirklich betreten, die raue Oberflächenstruktur des Segmentes der Berliner Mauer ertasten, den kalten Stahl der Tresortür unter den Händen spüren. Dieser Effekt beruht auf zweierlei: dem lebensgroßen Maßstab der abgebildeten Objekte und der Tatsache, dass sie in ihrer Form ausgeschnitten sind. Anders als bei herkömmlicher Fotografie fehlt dadurch der äußere rechteckige Rahmen, der das Abgebildete als Bild präsentiert und sich klar von unserem offenen Sichtfeld unterscheidet. Der Blick durch ein Fenster, wie es Leon Battista Alberti schon im 15. Jahrhundert metaphorisch umschrieb, isoliert den wahrgenommenen Raum des Bildes von der räumlichen Wirklichkeit des Betrachters. Bei Maculans Fotoskulpturen entfällt jedoch nicht nur der äußere Rahmen, sondern auch das, was man den inneren Rahmen nennen könnte: der Hintergrund, der das abgebildete Objekt in einen räumlichen und zeitlichen Kontext einordnet. Durch die vollzogene Aufhebung der Trennung von imaginärem und realem Raum erscheint das dargestellte Objekt von jenseits des Fensters unversehens in unserem eigenen Raum. Statt eine dreidimensionale Realität in zweidimensionaler Komposition abzubilden, präsentiert uns Maculan zweidimensionale Abbildungen als scheinbar räumlich präsente Objekte, bzw. vollzieht sie eine Doppelbewegung von Drei- zu Zweidimensionalität und zurück zur (Illusion der) Dreidimensionalität. Der zunächst paradox anmutende Begriff der „Fotoskulptur“ ist überaus treffend.
Das dargestellte Objekt erscheint in unserem Raum, aber nur als optische Täuschung. Damit klingen in Maculans Fotoskulpturen Merkmale von trompe l’oeil an, einbevorzugtes Stilmittel der barocken Malerei der Gegenreformation. Gegen nüchterne Rationalität setzte diese auf theatralische Opulenz in der Verbindung von Malerei, Skulptur und Architektur, welche in Erstaunen versetzen, die Sinne überwältigen und die Emotionen ansprechen sollte. Nicht umsonst begegnen uns in der ersten Fotoskulptur der Ausstellung – eine Ansicht der spätbarocken Stiftsbibliothek Admont, gesehen durch das Eingangsportal – gleich drei verschiedene Formen des barocken trompe l’oeil: der Fußboden, dessen Kacheln so verlegt sind, dass ein dreidimensionaler Eindruck entsteht; die malerische Ausgestaltung der Decken, deren dramatisch übersteigerte Perspektive die Kuppeln zum Himmel hin offen und von Balkonen gesäumt erscheinen lassen; und der Türrahmen selbst, der uns daran erinnert, dass im Barock statt echtem Marmor oft Stuckmarmor als Marmorimitation verwendet wurde. Die illusionistische Tiefenwirkung, welche barocke Freskenmalerei durch geschickte perspektivische Verkürzungen erzielen konnte, ist in der Fotoskulptur „Tür II“ in perfekter Weise umgesetzt.
Maculans raffiniertes Spiel mit Wirklichkeit, Wahrnehmung und Illusion ist theatralisch inszeniert (eine ihrer Arbeiten bildet sogar einen Theatervorhang ab). Sie arbeitet mit der dem Kameraauge eigenen Fluchtpunktperspektive nicht als Kompositionsprinzip, sondern als epistemologische Infragestellung unserer Wahrnehmung, in der die optische Täuschung selbst zum Thema wird, und zwar als problematische Verführung. Dies gilt unabhängig davon, ob sie eine scheinbare Räumlichkeit erzeugt, eine konkrete materielle Realität vortäuscht oder beides miteinander verbindet. Bei den Arbeiten, die ein einzelnes Objekt frontal und aus seinem Kontext herausgelöst präsentieren, tritt uns dieses mit der ganzen Wucht seiner ontologischen Dinghaftigkeit entgegen, seiner überwältigenden Präsenz im Hier und Jetzt – und entpuppt sich dann doch als Illusion. Die konzeptuelle Analogie von barockem trompe l’oeil zu postmodernem Simulacrum liegt nahe, und tatsächlich lassen sich in der Auseinandersetzung des Barockes mit der Reformation Parallelen zur postmodernen Kritik am Modernismus erkennen. Den Glauben an Authentizität, Rationalität und universelle Gültigkeit hinterfragend, bevorzugt sie das Theatralische, das historisch und geografisch Spezifische, das Diverse, die Zwischenräume und Abweichungen von der Norm, die kulturell bedingten Narrative, Traditionslinien und Genealogien. Maculans postmodernes, fotografisches trompe l’oeil thematisiert in visueller Form die Komplexität und Vielschichtigkeit – wie auch die trügerische Doppelbödigkeit – aktueller Wahrnehmungswelten, kultureller Konstruktionen und historischer Deutungshoheiten.
Der zweite Teil der Ausstellung ist Maculans Fotoserie „Älteste Bäume Deutschlands“ gewidmet. Der Kontrast zu den Fotoskulpturen ist augenfällig – siehe etwa im Vergleich mit der Fotoskulptur „Flanieren I“. Überwiegend in Schwarzweiß gehalten, folgen die Bilder ganz den Prinzipien klassisch-modernistischer Fotografie. Zwar handelt es sich um eine Serie, doch anders als etwa in den dokumentarisch katalogisierenden Serien von Bernd und Hilla Becher bleibt hier der subjektiv gestalterische Blick der Künstlerin entscheidend. Gegen die sachlich nüchterne Bestandsaufnahme künstlich geschaffener Strukturen in den Arbeiten der Bechers steht hier eine organische Gewachsenheit, die sich folgerichtig in der Individualität der Einzelkompositionen niederschlägt. Es handelt sich hier nicht um eine Typologie, sondern um würdigende Einzelportraits außergewöhnlicher Lebewesen.
Dr. Martin Oskar Kramer
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Lies Maculan — From Beyond
European Month of Photography (EMOP), Berlin 2020
2 October – 6 December, 2020
Our initial reaction to Lies Maculan’s photo-sculptures is astonishment: the depicted objects seem surprisingly real, even physically tangible. We can almost believe that we could enter the library trough the portal, touch the rough surface structure of the segment of the Berlin Wall, feel the cold steel of the safe door beneath our hands. This effect is owed to two factors: the life-sized rendering of the depicted objects as well as the fact that they appear as cut-outs. Unlike in regular photography, Maculan’s photo-sculptures dispose of the rectangular outer frame that presents the depiction as an image clearly distinct from our open field of view. The view through a window, as Leon Battista Alberti characterized it metaphorically as early as the 15th century, separates the perceived space of the image from the actual space of the beholder. Maculan‘ photo-sculptures, however, not only remove that outer frame but also what could be termed the inner frame: the background providing a spatial and temporal context for the depicted object. In dissolving the difference between imaginary and real space the depicted object from beyond the window now appears in our own space. Instead of depicting a tree-dimensional reality in a two-dimensional composition, Maculan presents two-dimensional images as seemingly spatially present objects, or rather enacts a twofold movement or about-face from three- to two-dimensionality and back to the (illusion of) three-dimensionality. The designation „photo-sculpture“—on the face of it paradoxical—is in fact entirely appropriate.
While the depicted object appears in our space, it does so only as an illusion. In this manner Maculan’s photo-sculptures recall trompe l’oeil as a favored stylistic choice of Baroque painting. Reacting against the sober rationalism of the Reformation it favored theatrical opulence in the combination of painting, sculpture and architecture, in order to cause astonishment, overwhelm the senses and stir the emotions of the beholder. It is not by chance that the first photo-sculpture we encounter in the exhibition—a view of the late baroque Admont abbey library, as seen through the portal—presents as many as three distinct forms of Baroque trompe l’oeil: the floor with its tiling arranged in such a manner as to create an effect of depth; the ceiling frescos whose dramatically exaggerated perspective suggests domes open to the sky and surrounded by balconies; and the portal itself, calling to mind that baroque architects liked to use painted imitation marble instead of real marble. The illusory appearance of spatial depth that Baroque painting was able to evoke thorough shrewd foreshortenings is perfectly realized in the artist’s photo-sculpture „Door II.“
Maculan’s wily play with reality, perception and appearances is staged in a theatrical manner (one of her works even depicts a theater curtain). Her works employ the vanishing point perspective inherent to photography not as a compositional tool, but as an epistemological interrogation of our mode of perception, elevating optical illusion to the level of the true subject matter of the works, in all of its problematic seductiveness. This is true regardless of whether Maculan creates the appearance of spatial depth or of a concretely material reality, or even a combination of the two. In the instances where we encounter an object frontally and taken out of its context, we are struck by the full force of its ontological thingness, its overwhelming presence in the here and now—only for that, too, turning out to be an illusion. The conceptual analogy of Baroque trompe l’oeil and Postmodern simulacrum does not seem far-fetched, and indeed there are parallels to be discovered between the Baroque rejection of Reformation rationality and the Postmodern critique of Modernism. Questioning the belief in authenticity, rationality and universality it favored the theatrical, the historically and geographically specific, diversity, the interstices and deviations from the norm, as well as culturally determined narratives, traditions and genealogies. Maculan’s postmodern, photographic trompe l’oeil addresses, in a visual manner, the complexities and intricacies—as well as the deceptive ambiguity—of contemporary modes of perception, cultural construction and historical interpretation.
The second part of the exhibition is dedicated to Maculan’s photography series of „Oldest Trees of Germany.“ The contrast to the photo-sculptures is obvious—as for instance when comparing them with the photo-sculpture „Flanieren I“. Kept mostly in black-and-white, the images adhere fully to the principles of classically modernist photography. Even though they are presented as a series, unlike in the documentary visual catalogues of Bernd und Hilla Becher the subjective and creative gaze of the artist remains essential. The soberly factual recording of artificially created structures in the works of the Becher couple is countered by the presentation of organic growth, suitably expressed in the uniqueness of each composition. This is not a typology but individual portraits rendering homage to these extraordinary beings.
Dr. Martin Oskar Kramer
#ArtistStudioStory_Lies Maculan from Galerie Deschler on Vimeo.
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