wir sehen

Jörn Grothkopp „wir sehen“

6. Juli – 8. September 2018

Eröffnung: Freitag, 6. Juli 2018, 19-21 Uhr

Einleitende Worte gegen 20 Uhr: Dr. Kilian Jay von Seldeneck (Kunsthaus Lempertz)

Auffällige Gemeinsamkeit der verschiedenen, sehr unterschiedlichen klassischen Motive, die Jörn Grothkopp in seinen Gemälden auf eine ganz individuelle Art neu interpretiert, ist die Reduktion der Bildelemente auf ihre Grundstrukturen, welche eine radikale Vereinfachung des Bildes bewirkt. Dazu kommt das Merkmal der Unschärfe, wie auch die Tatsache, dass Grothkopp in vielen Bildern Formen und Farben bis fast an ihre Wahrnehmungsgrenze führt. Die Motive erscheinen wie durch einen Nebel gesehen, stets knapp außer Reichweite des sprachlich und visuell Fassbaren schwebend, gleichsam als hätte sich ein Schleier zwischen gesehenem Objekt und sehendem Subjekt gelegt. Dabei bleibt unklar, ob sich die Gestalten und Motive im Nebel auflösen oder ob sie aus diesem Nebel auftauchen. Handelt es sich bei den verschiedenen Variationen der Mona Lisa um nachempfundene mögliche Vorstufen des fertigen Gemäldes oder um nachträgliche Dekonstruktionen dieses so ikonografischen Bildes? Die Frage ist unlösbar, bzw. es ist beides gleichzeitig, ein oszillierendes Verharren einem Zwischenstadium zwischen sensorischer Wahrnehmung und mentalem Sehen, Abstraktion und Gegenständlichkeit – teilweise wirkt es so, als würden Rothkos vibrierende abstrakte Farbflächen fast, aber nicht ganz, in die Gegenständlichkeit zurückgeholt.

Es ist natürlich bezeichnend, dass Grothkopps Ausstellung „wir sehen“ betitelt ist. Velten Wagner schreibt in seinem Katalogtext zur gleichnamigen Ausstellung im Städtischen Museum Engen: „Durch die musterartige Kennzeichnung der Motive und das Verschwimmen der Formen bis hin zu ihrem Verschwinden im Weißraum des Bildes erzeugt der Künstler mentale Bilder. Diese Bilder werden nicht von der Realität des Seheindrucks abgezogen, sondern thematisieren die Wahrnehmung des Betrachters. Ausgangspunkt ist demnach nicht das Was sondern das Wie, im Fokus steht nicht der Gegenstand, sondern seine Wahrnehmung. Die Wahrnehmung, so die Konsequenz, wird zum eigentlichen Bild-Gegenstand.“ Es ist genau dieser Schleier aus Unschärfe und reduzierten Formen und Farben, der die Wahrnehmung zum Bildgegenstand von Grothkopps Gemälden macht: er verdeutlicht, dass Wahrnehmung ein nie abgeschlossener Prozess zwischen reinem Sinnesreiz und seiner mentalen Verarbeitung ist. Es ist so, als würde Grothkopp das Sein der Dinge (in der Sprache von Heidegger) im Akte des gerade erst geschehenden, stets sowohl vollkommenen als auch unvollkommenen „Anwesens“ („das Ding west an“) einfangen, seinem unaufhörlichen , in jedem Moment stattfindenden Kreislauf von Erscheinen und Verschwinden. Die Ambivalenz zwischen Erscheinen und Auflösen suggeriert gleichzeitig die Wechselseitigkeit des Prozesses: nicht nur erscheinen die Dinge im Bewusstsein, welches einen visuellen Reiz empfängt, gleichzeitig werden sie auch vom nach außen projizierenden Bewusstsein geschaffen, so wie Sprache die Wirklichkeit gleichzeitig abbildet und formt und der Gedanke und seine sprachliche Formulierung unlösbar miteinander verbinden sind. Der Titel „wir sehen“ verweist mit seinem „wir“ weiterhin auf die Spannung zwischen kollektiver, kulturell geprägter Wahrnehmung/Gestaltung der Welt (z. B. durch Sprache und visuelle Konventionen so wie Kunstgeschichte: siehe Mona Lisa) und individueller Perspektive, die nie völlig identisch sein kann mit der unseres Nebenmannes. Die nicht predeterminierte, schärfelose Offenheit der Bilder gewährt beidem weiten Spielraum. Damit bringt Grothkopp in seinen Bildern die komplexe Erfahrung des Sehens in eine Beziehungsstruktur, deren scheinbare Einfachheit sich beim Sehen wieder in eine komplexe Seherfahrung zurückverwandelt.

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Jörn Grothkopp „wir sehen“

6 July – 8 September, 2018

Opening: Friday, 6 July, 2018, 7-9 p.m.

Opening remarks around 8 p.m.: Dr. Kilian Jay von Seldeneck (Kunsthaus Lempertz)

An obvious feature shared by the different, quite divergent classical types of subject matter interpreted by Jörn Grothkopp in a very unique and individual new manner, is the reduction of the elements of the image to its basic structures, effecting a radical simplification of the visual forms. To this is added the blurriness of forms, as well as the fact that in many paintings Grothkopp pushes both forms and colors almost to the edge of perceptibility. The shapes appear as seen through a fog, hovering just beyond the reach of visual and verbal tangibility, as if a veil had been lowered between perceiving subject and perceived object. At the same time it remains unclear whether these shapes and forms are dissolving into the fog or rather appearing out of this fog. Are the different variations of the Mona Lisa reconstructions of possible preliminary stages to the completed painting, or are they subsequent deconstructions of that iconographic image? The question remains unanswerable, or rather it is both simultaneously, an oscillating persistence in an intermediate state between sensorial and mental perception, abstraction and figuration—at times it is almost as if Rothko’s vibrating abstract forms had almost, but not quite, been pulled back into figuration.

It is telling, of course, that Grothkopp’s exhibition carries the title „we are seeing.“ In his contribution to the catalogue of the exhibition with that same title at the Städtische Museum Engen Velten Wagner writes: „In the pattern-like marking of the subject-matter and the dissolution of forms, up to their disappearance in the white space of the image, the artist creates mental images. These images are not subtracted from the reality of the visual impression, but directly target the perception of the beholder. Their point of departure is not the what but the how, their focus not on the object but on its perception. As a result, it is perception itself that becomes the true subject-matter.“ It is precisely this veil of blurriness and reduction of shapes and colors that turns perception itself into Grothkopp’s real subject-matter. It demonstrates that perception is a incessant interplay between purely sensorial stimulus and mental processing. It is as if Grothkopp were depicting the being of objects in the unceasing and always both complete and incomplete act of coming into being, in its perpetual, in every moment occurring cycle of appearing and disappearing, what Heidegger termed „Anwesen“ (presencing). At the same time, the ambivalence between appearance and disappearance suggests the reciprocity of the process: objects not only appear in consciousness as it receives a visual impulse, these objects are at the same time, in a movement of outward projection, created by that same consciousness, just as language both depicts and shapes reality, and thought and its verbal expression are irresolvably connected. The „we“ in the title of the exhibition furthermore points to the interplay between collective and culturally determined perception/creation of the world (e.g. through language and visual conventions such as art history: cf. Mona Lisa) and our individual perspective, always necessarily different from the next person. The not predetermined und unfixed openness of the images allows both aspects a wide range of expansion. Grothkopp thereby provides a structure of relationships for the complex experience of viewing, whose seeming simplicity is transformed back into a complex visual experience in the act of beholding.

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